„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werdet.“ Matthäus 7,1-2
Wenn du ernsthaft bemüht bist, ein Leben zu führen, wie es Jesus in seiner Bergpredigt beschrieben hat, wird dich der Versucher in eine überaus hinterlistige Falle führen wollen: Er wird dich dazu bringen, dass du deinen gottesfürchtigen Wandel mit dem deiner Mitmenschen vergleichst und sie mit deinen Maßstäben misst. Weil du den Willen Gottes kennst und auch die gefallene menschliche Natur, bist du in der Lage, andere zu prüfen und zu beurteilen. Diese Tatsache bestätigt auch die Schrift, denn sie sagt: „Der geistliche Mensch ergründet alles!“ Doch dabei heißt es, vorsichtig zu sein, denn wenn du nicht wachsam bist, wird dich ein Gegner zu Fall bringen, der schon Unzählige überwunden hat. Es ist der Richtgeist! Wenn er in deinem Herzen Einzug halten kann, werden die Folgen verheerend sein.
Wenn wir uns mit anderen vergleichen und sie mit unserem Maß messen wollen, sollten wir beachten, was der Apostel Paulus diesbezüglich schrieb: „Mir ist's ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist's aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden.“
Wir sollten in der Beurteilung unserer Mitmenschen zurückhaltend und äußerst vorsichtig sein, denn wir sehen nur das, was vor Augen ist – Gott allein kann in das Herz eines Menschen blicken. Deshalb kennt auch nur er die wahren Beweggründe und Motive, die unser Tun und Lassen bestimmen. Wir könnten uns irren, wenn wir andere beurteilen. Wir können uns sogar irren, wenn wir uns selbst beurteilen.
Auch Elias Selbsteinschätzung war fehlerhaft und unzutreffend. Er diente dem Herrn in einer Zeit des Abfalls und des Götzendienstes. Schließlich kam der Tag, an dem er ganz allein vor dem abtrünnigen Volk stand und rief: „Wie lange hinket ihr auf beiden Seiten? Ist der Herr Gott, so wandelt ihm nach, ist's aber Baal, so wandelt ihm nach.“ Wir lesen: „Und das Volk antwortete ihm nichts!“
Es war dieser Eindruck, der Elia bald darauf sagen ließ: „Ich bin allein übriggeblieben!“ Wie aber lautete die göttliche Antwort auf die Selbsteinschätzung des Propheten? Der Herr sagte: „Ich will übriglassen siebentausend in Israel, alle Knie, die sich nicht gebeugt haben vor Baal, und jeden Mund, der ihn nicht geküsst hat.“
Als Petrus, der Jünger Jesu, seinem Meister versprach: „Ich will mein Leben für dich lassen“, meinte er es sicherlich ernst. Doch er kannte sich selbst nicht, wusste nicht, wozu er fähig war. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass er seinen Herrn noch in derselben Nacht dreimal verleugnen würde. Auch seine Selbsteinschätzung war irrig und falsch.
Eben noch stand die Ehebrecherin beschämt vor ihren Anklägern, deren Urteil vernichtend war. Gleich darauf aber durfte sie die Liebe und Barmherzigkeit Jesu, ihres Erlösers, erfahren. Wo eben noch Ablehnung geherrscht hatte, war nun herzliche Annahme zu spüren, wo Anklage erhoben worden war, triumphierte nun Vergebung. So schnell kann Gott das Geschick eines Menschen wenden! Und so schnell kann er unser Urteil zunichte machen, das wir über einen anderen gefällt haben!
Oder denken wir an den Zöllner, dessen busfertiges Herz Jesus lobte. Vielleicht hatte er noch kurz zuvor einen seiner Mitmenschen betrogen, ohne Reue zu verspüren. Doch während er zum Tempel eilte, wurde er sich seiner Schuld bewusst. Beschämt schlug er seine Augen nieder und bekannte Gott seine Verfehlungen. Und an Ort und Stelle empfing er, worum er gebeten hatte, nämlich die Vergebung Gottes. Er ging gerechtfertigt davon!
Wo aber bleiben wir, seine Ankläger, die wir über ihn zu Gericht sitzen wollen?
An einem anderen Tag berichtete einer der Jünger Jesu folgende Begebenheit: „Meister“, sagte er, „wir sahen einen, der trieb böse Geister in deinem Namen aus, und wir verboten's ihm, weil er uns nicht nachfolgt.“ Was aber antwortete ihm der Herr? „Ihr sollt's ihm nicht verbieten. Denn niemand, der ein Wunder tut in meinem Namen, kann so bald übel von mir reden. Denn wer nicht gegen uns ist, der ist für uns!“
Wollen wir andere Christen verurteilen, nur weil sie uns nicht nachfolgen? Sollte das ein Grund sein, ihnen zu misstrauen und aus dem Wege zu gehen? Sind wir das Haupt des Leibes?
Christus ist Herr und König aller! Er ist auch das Haupt seiner Gemeinde und jedes einzelnen Gläubigen. Ihm wird sich jedes Knie beugen und jeder vor ihm Rechenschaft ablegen müssen. Deshalb sagt die Schrift: „Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herr ... Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben: 'So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.' So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“
Heute ist nicht die Zeit, andere zu richten, zu verurteilen und zu verdammen. Wenn wir es dennoch tun und unseren Bruder verachten, haben wir uns als Diener Christi disqualifiziert. Vergessen wir nicht das Wort des Herrn, das da lautet: „Nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.“
Bevor wir uns wegen einer bestimmten Lehrmeinung oder Praxis streiten, sollten wir an das Wort des Apostels Paulus denken, der sagte: „Wir erkennen stückweise, und wir weissagen stückweise; wenn aber das Vollkommene kommt, wird das, was stückweise ist, weggetan.“
Ist das Vollkommene etwa schon gekommen? Gibt es einen Menschen unter uns, der die Fülle Christi verkörpert? Nein! Das Vollkommene wohnt einzig und allein in Jesus, dem Sohn Gottes! Du und ich, wir können sehr wohl irren. Deshalb sind wir darauf angewiesen, dass uns der Herr die blinden Augen öffnet – Tag für Tag.
Darum heißt es: „Wer meint, er stehe, mag zusehen, dass er nicht falle!“
Viele namhafte Bibellehrer sind, was die Auslegung bestimmter Schriftstellen betrifft, unterschiedlicher Meinung. Wer möchte festlegen, wie wir Christen uns versammeln sollen oder wie ein Gottesdienst gestaltet sein muss, damit Gott zufriedengestellt ist? Darf man freudig in die Hände klatschen? Wann sollte ein Lied gesungen, wann gebetet, wann gepredigt werden? Welchen Themen ist bei der Verkündigung Vorrang zu geben? Und wer ist qualifiziert, Gottes Wort zu predigen? Wer darf reden, wer soll schweigen?
Dürfen wir bei diesen oder ähnlichen Fragen mit unseren eigenen Maßstäben messen? Und doch tun wir es so oft! Was dann nicht unserer Vorstellung, Erwartung oder traditionellen Gepflogenheit entspricht, lehnen wir ab. Stattdessen sollten wir fragen: Steht Christus im Mittelpunkt des Geschehens? Ist er das Thema der Verkündigung? Wird sein Name hoch erhoben und groß gemacht? Werden die Heiligen im Glauben gestärkt? Ist die Liebe Gottes in ihrer Mitte sichtbar?
Wir sollten uns freuen, wenn wir hören, dass Gottes Wort in Einfalt des Herzens und aus Liebe zu Jesus verkündigt wird. Wir sollten dem Herrn danken, wenn sich die Gläubigen in seinem Namen versammeln und ihn loben und preisen. Wir sollten jubeln, wenn Menschen von Bindungen befreit, in das Reich des Lichts und der Liebe Gottes versetzt werden. Denn das ist es, was bei Gott zählt!
Die Schrift fordert uns auf: „Betet ... für alle Heiligen!“ In unserem Herzen muss Raum sein für alle Heiligen, für alle, die Christus angehören und sein Erscheinen herbeisehnen, nicht nur für diejenigen, die unsere eigene Sicht teilen. Gott ist unser aller Vater, der alle seine Kinder liebt, allen seine Gnade und Barmherzigkeit zukommen lässt. Wenn wir unser Herz so weit machen, wie das Herz unseres himmlischen Vaters ist, wird darin für alle Glieder Christi Raum sein. Dann werden wir diejenigen, die wie wir, Mitteilhaber der Gnade sind, gewiss nicht richten und verurteilen. Vielmehr werden wir unseren Sinn darauf richten, anderen keinen Anstoß zu bereiten.
Wenn wir Christus dienen, tun wir dies gemäß der Gnade, die wir von ihm empfangen haben. Auch Paulus bezeugte: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist.“ Was wir also sind und haben, verdanken wir allein der Gnade Gottes – es ist nicht unser Verdienst. Darum haben wir auch kein Recht, uns über unseren Bruder zu erheben, ihn zu verachten oder gar zu verurteilen. Er steht und fällt seinem Herrn und bedarf seiner Gnade – so wie auch wir.
Deshalb kann das Auge nicht zur Hand sagen: „Ich brauche dich nicht“ oder der Fuß: „Ich bin keine Hand, darum bin ich nicht Glied des Leibes.“ Wo bliebe das Gehör, wenn der ganze Leib Auge wäre, wo der Geruchssinn? Daran erkennen wir, dass alle Glieder des Leibes gleich wichtig und nötig sind und keines das andere verachten oder verurteilen darf.
Bedenke stets, dass du mit dem Maß gemessen wirst, mit dem du deine Mitmenschen misst. Bist du barmherzig, wirst du Barmherzigkeit erlangen. Misst du großherzig zu, wird auch dir großherzig zugemessen werden!
1.Kor.2,15; 4,3-5; 1.Sam.16,7; 1.Kön.18,21-22; 19,10,18; Röm.11,3-5; Jh.13,37-38; 8,3-11; Lk.18,13-14; Mk.9,38-40; Röm.14,7-13; 12,3; 1.Kor.13,9.12 (Elberfeld); 10,12; Eph.6,18; 4,6; 1.Kor.15,10; 12,14-21; Mt.5,7