„Und jeder ging heim. Jesus aber ging zum Ölberg.“ Johannes 7,53-8,1
Viele Menschen waren von dem, was Jesus sagte, tief beeindruckt. So wird uns berichtet: „Einige nun aus dem Volk, die diese Worte hörten, sprachen: Dieser ist wahrhaftig der Prophet. Andere sprachen: Er ist der Christus. Wieder andere sprachen: Soll der Christus aus Galiläa kommen? ... So entstand seinetwegen Zwietracht im Volk.“
Auch jene Männer, die die Pharisäern geschickt hatten und Jesus gefangen nehmen sollten, blieben von dem, was sie hörten, nicht unberührt, denn sie sagten: „Noch nie hat ein Mensch so geredet wie dieser.“ Man kann verstehen, dass ihre Auftraggeber darüber sehr verärgert waren und fragten: „Habt ihr euch auch verführen lassen? Glaubt denn einer von den Obersten oder Pharisäern an ihn? Nur das Volk tut's, das nichts vom Gesetz weiß; verflucht ist es.“
Doch, unter den Pharisäern gab es einen Mann, der von Jesus sehr angetan war und ihn nicht für einen Verführer hielt – Nikodemus. Er kam sogar mitten in der Nacht zu Jesus, um ihm Fragen zu stellen, die ihn bewegten. Nun meldete er sich zu Wort: „Spricht zu ihnen Nikodemus, der vormals zu ihm gekommen war und der einer von ihnen war: Richtet denn unser Gesetz einen Menschen, ehe man ihn verhört und erkannt hat, was er tut? Sie antworteten und sprachen zu ihm: Bist du auch ein Galiläer? Forsche und sieh: Aus Galiläa steht kein Prophet auf.“ Danach wird uns gesagt: „Und jeder ging heim.“
Die Meinungen darüber, wer Jesus ist, gehen auch heute weit auseinander. Nicht selten werden darüber sogar hitzige Debatten geführt. Dann, nachdem man seine Ansicht dargelegt und begründet hat, geht man wieder nach Hause. Wir gehen „heim“ in das uns vertraute – wir ziehen uns in unsere Gedankenwelt zurück. Hier, im Schutz unserer eigenen Meinung, fühlen wir uns sicher. Ob dieses Fundament allerdings allen Stürmen des Lebens zu trotzen vermag, wird sich erst später zeigen.
Nur wenige Stunden, bevor Jesus verhaftet und gefangen weggeführt wurde, sagte er zu seinen Jüngern: „Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“
Wenn wir in Schwierigkeiten geraten oder angegriffen werden, gehen wir „heim“ – wir fliehen in das Unsere. Egal, was wir erleben, stets suchen wir Zuflucht in unserer Seele. Hier, in unserem „Heim“ befinden sich die uns vertrauten Denkstrukturen, hier wohnen unsere emotionalen Empfindungen, hier beherbergen wir unsere Stimmungen und Launen, denen wir uns nur allzu gern hingeben. Vielleicht hat uns ein Kollege ungerecht behandelt. Sofort „gehen wir heim“ – wir sind gekränkt oder beleidigt, grollen und wollen uns rechtfertigen. Oder uns erreicht eine Nachricht, die uns erschreckt. Unverzüglich eilen wir „heim“ – unser Blick verdüstert sich, wir geben uns sorgenvollen Gedanken hin.
Was tat Jesus, nachdem man seinetwegen heftig gestritten hatte? Die Schrift berichtet: „Und jeder ging heim. Jesus aber ging zum Ölberg.“
Jesus zog sich nicht in sich selbst zurück! Der Sohn Gottes machte sich auf, um am Ölberg, einem Ort der Ruhe, Gemeinschaft mit seinem Vater zu pflegen. In seiner Gegenwart fand er Trost und Zuversicht, hier ließ er sich stärken, hier schöpfte er neuen Mut. Am Ölberg ließ sich Jesus vom Vater erquicken. Er tauchte ein in seine Liebe und ließ sich neu von dem bestätigen, der ihn gesandt hatte. Hier lud er auch ab, was ihn beschweren und niederdrücken wollte. Der Ölberg war für Jesus der Ort, an dem ihm der Vater einen Tisch bereitete – im Angesicht seiner Feinde. Hier labte er seine Seele am frischen Wasser. Hier wurde sein Haupt mit Öl gesalbt. Hier schenkte ihm der Vater voll ein. Am Ölberg ließ sich Jesus von der Liebe des Vaters sättigen und emporheben.
„Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“, hatte er seine Eltern bereits als Zwölfjähriger gefragt. Damals schon wurde Jesus vom diesem Wunsch geleitet: Er wollte in dem sein, worin der Vater war – in den Gedanken, die der Vater dachte, in den Empfindungen, die den Vater leiteten und auch in dem Willen des Vaters, der sein eigenes Wollen regierte. So konnte Jesus sagen: „Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat.“
So war es auch, als ihn die Volksmenge nach der Speisung der Fünftausend suchte und zum König machen wollte. Die Schrift sagt: „Als Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er selbst allein.“ In dem Augenblick, in dem die Volksmenge Jesus auf den Thron setzen wollte, verspürte er das tiefe Bedürfnis, mit seinem Vater allein zu sein. Er suchte nicht die Anerkennung der Menschen, er wollte mit seinem Vater Gemeinschaft haben. Jesus wollte nicht von Menschen geehrt werden – er wartete auf die Erhöhung durch den, der ihn gesandt hatte.
Nachdem Jesus die Nacht am Ölberg verbracht hatte, kam er frühmorgens in den Tempel, wo sich die Menschen sofort um ihn scharrten, um ihn zu hören: „Und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten.“
Der Angriff war nicht nur hinterhältig, er war auch sehr gefährlich. Und noch dazu am frühen Morgen! Jesus blieb keine Zeit. Aus der Falle, die ihm seine Gegner gestellt hatten, würde er, so glaubten sie, nicht entkommen. Alle Augen waren auf den Mann aus Nazareth gerichtet. Was würde er antworten? War er barmherzig und übte Nachsicht gegenüber der Ehebrecherin, missachtete er das Gesetz Moses. Bestätigte er jedoch ihre Verfehlung, musste er auch ihrer Bestrafung zustimmen. Dann aber war er für den Tod der zitternden und verängstigten Frau verantwortlich.
Was tat Jesus in dieser brisanten Situation? Wir lesen: „Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.“
Unglaublich! Während alle Augen auf ihn gerichtet waren, schien Jesus völlig abwesend zu sein. Er schrieb einfach mit dem Finger auf die Erde. Wie kann ein Mensch so ruhig bleiben, währender er hart bedrängt wird und man von ihm eine Antwort erwartet, die über Leben oder Tod eines Menschen entscheiden wird?
Jesus hatte nicht nur die Nacht am Ölberg verbracht. Während ihn die Menschen umringten, war er innerlich immer noch „am Ölberg“. Keinen Augenblick hatte er die Gemeinschaft mit seinem Vater unterbrochen – auch jetzt nicht, im Augenblick höchster Erwartung und äußerster Anspannung. Deshalb konnte er auch weiterhin im Vater ruhen! Jesus ließ sich innerlich nicht unter Druck setzen. Er tat nichts ohne seinen Vater! Er wollte die Stimme des Vaters hören, erkennen, was in seinem Herzen war, sehen, was der Vater jetzt tun wollte. Er konnte sagen: „Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut gleicherweise auch der Sohn. Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er tut.“
Wir wissen nicht, welche Herausforderungen ein Tag mit sich bringen wird. Der Morgen mag geruhsam beginnen, doch können sich binnen weniger Minuten „dunkle Wolken“ auftürmen. Die Schrift warnt uns zwar vor unserem Widersacher, der „umhergeht wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge“, doch wann er seinen Angriff startet, wissen wir nicht. Es kann in minutenschnelle sein. Mitunter ist es nur eine Befürchtung, die er wie ein „feuriger Pfeil“ in unsere Gedanken schießt und schon ist unsere Ruhe dahin. Es kann aber auch sein, dass wir plötzlich Fragen beantworten oder Entscheidungen treffen sollen, auf die wir nicht vorbereitet sind. Bricht uns dann der Schweiß aus oder können wir gelassen „im Sand malen“?
Unser Gott und Vater kennt die Zukunft, die uns noch verborgen ist. Er weiß auch, was der Teufel plant und wann er uns angreifen will. Er ruft uns in seine Gemeinschaft hinein, um uns innerlich vorzubereiten, damit wir „nüchtern sind und wachen“. Bei ihm, am Ölberg, am Thron der Gnade, finden wir schon jetzt Hilfe für die Zeit, die noch vor uns liegt.
Für uns als Kinder Gottes ist es daher unverzichtbar, dass wir täglich das Angesicht Jesu Christi suchen, um ihn zu loben und in unserem Herzen zu erheben. Jeden Tag sollten wir ihm Dank sagen und uns daran erinnern, was er für uns getan hat und was er uns sein will. Wer nicht zum „Ölberg“ kommt, geht „heim“ – er zieht sich in sich selbst zurück. So aber sind wir nicht gegen einen plötzlichen Angriff des Feindes gewappnet – schon gar nicht am frühen Morgen!
Jesus, unser Herr, erwartet uns zu jeder Tages- und Nachtzeit am „Ölberg“. Nur in inniger Gemeinschaft mit ihm finden wir Schutz und Geborgenheit. Hier finden wir Aufnahme und Bestätigung. Am „Ölberg“, in der Gemeinschaft mit dem erhöhten Menschensohn, werden auch wir hoch erhoben. Eins mit dem Gesalbten wird auch unser Haupt mit frischem Öl gesalbt. In ihm, dem Friedefürst, ist auch die Ruhe vorhanden, die unser Denken übersteigt. Ein Mensch, der täglich zum „Ölberg“ kommt, wird auch nicht zulassen, dass ihn andere „krönen“. Er weiß, dass er ihn Christus schon zu einem König und Priester gemacht hat – vor Gott, seinem Vater.
Komm nicht nur einmal am Tag zum „Ölberg“! Bleibe in Christus, egal, wo du bist oder was du tust. Bleibe in der Gemeinschaft mit dem, der in dir wohnt. Er ist deine Ruhe und dein Friede. Du wirst gelassen „auf die Erde schreiben“ können – was immer geschieht. Du wirst nicht nervös werden, nicht hektisch reagieren, wenn man dich bedrängt. Zu jeder Zeit und an jedem Ort kannst du auf Christus schauen, mit ihm eins sein und seiner Stimme lauschen. Er, dem alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben wurde, wird dich nie allein lassen. Bleibe in dem, was sein ist!
Mt.7,24-27; Jh.16,32; Ps. 23,2-3.5; Lk.2,49; Jh.4,34; 6,15; 5,19-20; 6,63b.68-69; 15,4-5; 1.Petr.5,8; Hebr.4,16; Offb.1,4; Kol.3,17